Bewegung in den Bezirken - Experten vor Ort zu den Veränderungen im Kiez


Entstand mit
URBAN-Mitteln:
Öffentliche Freifläche
für Jugendliche in der
Jablonskistraße

Peter Heyde und Norbert Zander vom URBAN-Projekt "KICK- Sport gegen Jugenddelinquenz" in der Kollwitzstraße: "Die sozialen Probleme hier sind nach wie vor groß - auch wenn sich die Gegend allmählich zum Nobel-Viertel wandelt. Letztes Jahr sind sogar ein paar Eltern zusammen mit ihren Kindern bei uns aufgetaucht und haben sich erkundigt, was wir hier anbieten. Das waren mit Sicherheit Beamte aus Bonn. Die meisten unserer Besucher kommen aus sozial sehr schwierigen Verhältnissen, wobei wir den großen Anteil Alleinerziehender im Bezirk zu spüren bekommen. Kinder, die aus einer kompletten Familie kommen, sind selten. Auf der anderen Seite haben wir aber auch Klienten aus kinderreichen Familien. Sie haben häusliche Betreuungsdefizite und finanzielle Probleme. Sogar Fahrkarten und Eintrittsgelder für Unternehmungen sind für viele Familien ein Problem. Mein Eindruck ist, dass sich die Situation teilweise sogar verschlimmert hat."

Jürgen Schulwitz, Bäckermeister aus der Eugen-Schönhaar-Straße 6a und Greifswalder Straße 43: "Ich habe den Betrieb 1977 von meinem Vater übernommen. In den letzten Jahren ist der Umsatz erheblich zurückgegangen. Was uns platt macht, sind die großen Einkaufscenter. Dort erledigen die Leute ihren ganzen Wocheneinkauf. Was aus der Greifswalder Straße geworden ist, finde ich erschreckend. Verkehrsprobleme, Leerstand, Billiganbieter - die Straße ist tot. Die Eugen-Schönhaar-Straße ist eine abgeschottete, ruhige Ecke, eine reine Wohngegend. Die Fluktuation im Kiez ist nicht so groß, es wohnen noch viele Alteingesessene hier. Studenten dagegen sind kaum zu sehen, für die ist das wohl ein Teil von Prenzlauer Berg, der nicht angesagt ist. Eine Riesenumwälzung hat bei uns also nicht stattgefunden. Das ist nicht zu vergleichen mit der Gegend um den Kollwitzplatz. Dort stehe ich seit einigen Wochen mit einem Stand auf dem neuen Wochenmarkt. Das läuft sehr gut. Da hat man es mit einem ganz anderen Klientel zu tun: freundlich, aufgeschlossen. Die probieren gern auch mal was Neues wie mein Möhrenbrot."

Günther Bahn, Bürgervertretung Barnimkiez: "Viele von den Alteingesessenen wohnen noch hier und sind mit dem Kiez älter geworden. Ihre Kinder ziehen aber größtenteils in andere Gegenden, wo sie Arbeit finden. Bis zur Wende gab es zum Beispiel ganz in der Nähe, in der Georgenkirchstraße, einen großen Bürokomplex, in dem viele Leute aus dem Gebiet gearbeitet haben. Nach der Schließung sind die Spezialisten den Arbeitsstellen nachgezogen. Damals fand eine richtige Entvölkerung statt. Seitdem hat sich aber einiges getan: Die Häuser wurden modernisiert, Spielplätze erneuert und eine zweite Seniorenresidenz wurde gebaut. Leider soll jetzt eine Schule wegen sinkender Schülerzahlen geschlossen werden. Deswegen kann man doch aber nicht von einem Kiezsterben sprechen, wie es manchmal gesagt wird! Im Gegenteil: Unser Wohngebiet ist attraktiv, was schon daran zu sehen ist, dass keine Wohnungen leer stehen. Es gibt sogar eine Warteliste. In den letzten Jahren sind viele Menschen neu zugezogen, gerade aus den Westbezirken, auch Spätaussiedler aus Kasachstan und deutsch-vietnamesische Familien. Konflikte sind dadurch nicht entstanden. Bei uns ist alles intakt, wir haben gute nachbarschaftliche Verhältnisse."

Simone Schlicke, Sprecherin der Betroffenenvertretung Komponistenviertel: "Bis 1989/90 war das hier ein Viertel der älteren Leute, das hat sich stark gewandelt. Seit etwa zwei Jahren sind viele Familien mit kleinen Kindern zugezogen, eine richtige Mischung ist entstanden. Die meisten Leute sind froh, dass wieder mehr junge Leute im Kiez leben. Am meisten fällt im Straßenbild natürlich auf, dass immer mehr Häuser frisch saniert sind. Bei den Anwohnern ist da schon ein Aufatmen zu spüren, dass etwas getan wird. Das Wohnumfeld hat sich durch die Sanierung stark verbessert, die Infrastruktur dagegen hat sich nicht so schnell entwickelt. Das geht viel zu langsam voran! Südlich der Berliner Allee gibt es beispielsweise nach wie vor viel zu wenig Spielplätze. Insgesamt hat sich das Viertel aber positiv entwickelt."

Petra Wilfert-Demirov, Sprecherin der Betroffenenvertretung Bötzowstraße: "Die Aufwertung des Gebietes ist deutlich zu spüren. In den letzten Jahren sind viele junge Leute zugezogen, vor allem aus Westdeutschland - was schon an den Dialekten zu hören ist. Ich schätze, dass fast die Hälfte der Bewohner erst nach der Wende gekommen ist. Es sind andere Geschäfte ins Viertel gekommen, Naturkostläden, Weinhandlungen und Boutiquen. Die alteingesessenen Geschäftsleute dagegen haben Schwierigkeiten, sich zu halten. Dabei sind die Leute hier immer noch stark mit ihrem Kiez verbunden. Gerade die Älteren bedauern aber, dass sich die Atmosphäre verändert hat und dass es immer weniger Anlaufpunkte und Geschäfte für ihre Bedürfnisse gibt. Dass viele von ihnen durch die Sanierung verdrängt werden, liegt schlicht und einfach daran, dass es keine altengerechten Wohnungen gibt, in die sie umziehen könnten. Der Bezirk müsste viel mehr Mittel in die Infrastruktur stecken, in Spielplätze, familien-, behinderten- und altengerechte Wohnungen. Das Viertel hat sich jedoch in den letzten Jahren rasant in eine andere Richtung entwickelt. Ich habe das Gefühl, es wird immer anonymer. Die Leute, die in die schönen Dachgeschosswohnungen gezogen sind, haben keine Probleme mit der Miethöhe oder dem Sanierungsprozess. Deswegen gehen sie auch kaum mit dem Kiez auf Tuchfühlung. Was mir positiv auffällt: Seit zwei, drei Jahren sind wieder mehr kleine Kinder auf der Straße zu sehen."