Kleine Demokratie - Der lange Weg der Bürgerbeteiligung in Deutschland


Bewegte Bürger West:
Demonstration gegen die
Wiederaufrüstung 1954

Bewegte Bürger Ost:
Alexanderplatz im Januar 1990

Signalbesetzung als Protest gegen den
Autobahnbau in West-Berlin 1986

Europa nimmt Kurs auf ein neues Jahrhundert, und Sie können die Richtung mitbestimmen – wenn Sie am 13. Juni zur Europawahl gehen. Der vor kurzem in Kraft getretene Vertrag von Amsterdam stärkt die Rolle des Europäischen Parlaments und gibt damit auch Ihrer Stimme Gewicht: Europa wagt mehr Demokratie.

Wahlen sind eine wichtige Form der Bürgerbeteiligung, aber bei weitem nicht die einzige. Volksentscheide gehören dazu, ebenso Mitbestimmungsangebote, wie sie zum Beispiel in Sanierungsgebieten üblich sind oder auch bei der Umsetzung des Berliner URBAN-Programms praktiziert wurden. Und nicht zuletzt sind hier natürlich auch die Einmischung und der kreative Widerspruch selbstorganisierter Initiativen mit politischen, sozialen oder ökologischen Zielen zu nennen. Viele der professionell arbeitenden „Nicht-Regierungsorganisationen”, die heute ein wichtiger Faktor im politischen System sind, haben ihre Wurzeln in solchen kleinen Initiativen auf lokaler Ebene.

Genau diese nachbarschafts- und nutzerorientierte „kleine” Demokratie ist auch das Thema dieser Ausgabe. Daß die genannten Formendes Bürgerengagements als wesentlicher Bestandteil einer demokratischen Gesellschaftbetrachtet werden, war in der Frühphase der Bundesrepublik keineswegs selbstverständlich.

Die Protestbewegungen der 50er Jahre gegen Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung wurden von einer Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit eher aus willigen Untertanen als aus kritischen Bürgern bestand, als verdächtige Störfaktoren verurteilt.

Anknüpfend an die Antimilitarisierungskampagnen gelang der Ostermarschbewegung Anfang der 60er Jahre der entscheidende Schritt, selbstorganisierten Protestformen Geltung zu verschaffen, und zwar außerhalb des parlamentarischen Systems und unabhängig von gesellschaftlichen Großgruppen wie Kirchen oder Gewerkschaften.

Bei den Ostermärschen waren auch die Studenten aktiv, die dann Ende der 60er Jahre die Führung des außerparlamentarischen Protestpotentials übernahmen und die autoritäre Wirtschaftswunderwelt in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß erschütterten. In den Auf- und Umbrüchen der Folgezeit engagierte sich eine breite gesellschaftliche Basis für Frieden, Gleichberechtigung und den Schutz der Umwelt – Bereiche, in denen die Defizite der etablierten Politik besonders deutlich waren (und vielleicht immer noch sind). Den Alternativbewegungen der 70er und 80er Jahre gelang es jedenfalls, Themen auf die politische Tagesordnung zu setzen, die von den Parteien zumindest nicht mehr ignoriert werden konnten.

Unter ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen entwickelten sich die Bürgerbewegungen der DDR, die bis 1989 im Verborgenen agieren mußten. In jenem Herbst war der „Runde Tisch” ein Instrument des gewaltfreien Dialogs zwischen Volk und Parteidiktatur. Inzwischen hat er sich als vielseitig anwendbares Modell erwiesen, wenn es um die Entwicklung zukunftsfähiger Lösungsstrategien für gesellschaftliche Probleme geht. Das Grundprinzip: der Dialog wird „lagerübergreifend” geführt, das heißt, Interessengruppen, Verwaltung und Unternehmen mit sehr weit auseinanderliegenden Positionen sitzen an einem Tisch, in dem Bewußtsein, daß sie aufeinander angewiesen sind. Die Teilnehmer haben sich von einer Haltung verabschiedet, die immer nur den eigenen Blickwinkel bestätigt sehen will, und sind bereit, sich auf Prozesse einzulassen, deren Ausgang ungewiß ist.